Empfehlungen
Neue Perspektiven schaffen
30 Empfehlungen zur Verbesserung des Lebens von Menschen, die aufgrund von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität (SOGI) in Deutschland Asyl beantragen*
Vor inzwischen beinahe vierzig Jahren wurden die ersten SOGI-Asylanträge anerkannt. Seither wurden auf globaler und europäischer Ebene bedeutende Fortschritte erzielt. Das Bewusstsein für Verfolgung aufgrund von SOGI ist stärker geworden und es gibt Beispiele für bewährte Richtlinien und Praktiken. Das SOGICA-Projekt hat jedoch viele Bereiche gefunden, in denen dringend Verbesserungen erforderlich sind – diese thematisieren wir hier. Die folgenden Empfehlungen spiegeln weitgehend die Ansichten von fast 500 Personen wider, die an den Interviews, Fokusgruppen und Online-Umfragen des SOGICA-Projekts teilgenommen haben.
Die Empfehlungen werden inmitten der COVID-19-Pandemie verfasst, die unter anderem gezeigt hat, dass Ungleichheiten zwischen Individuen und Gruppen innerhalb der Gesellschaft sich in solchen Krisenzeiten noch verstärken. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass innerstaatliche Gesetzgebung und Politik auf internationalen Flüchtlings- und Menschenrechtsstandards basieren muss und nicht vom guten Willen der jeweiligen Regierung abhängen darf. Dies wird dazu beitragen, dass wir in zukünftigen globalen Krisen tatsächlich „alle in einem Boot sitzen“ werden.
Uns ist bewusst, dass einige Verbesserungen des deutschen Asylsystems von der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) auf EU-Ebene abhängen. Wir konzentrieren uns hier jedoch auf Empfehlungen, die auf nationaler Ebene umgesetzt werden können, auch angesichts des erheblichen Ermessensspielraums, den die EU-Mitgliedstaaten durch die einschlägigen EU-Bestimmungen zu Asylverfahren und -aufnahme erhalten.
Empfehlungen: Asylrecht und -politik
1. Sicherer Weg nach Europa
Unsere Empfehlungen zielen darauf ab, das Asylrecht und die Asylpolitik in Deutschland zu verbessern. Dies reicht allerdings nicht aus und es muss gefährdeten Personen möglich sein, Europa auch tatsächlich zu erreichen, um internationalen Schutz zu beantragen. Selbst wenn die Reise nach Europa für SOGI-Minderheiten, die vor Verfolgung fliehen, möglich ist, dann ist dies fast immer äußerst riskant und kostspielig. Aufbauend auf dem Antrag des Europäischen Parlaments im Jahr 2018 sollte die Bundesregierung humanitäre Aufnahmeprogramme und Visa-Regelungen ausweiten und konsolidieren, um Menschen auf der Flucht zu helfen, sicher nach Europa zu gelangen.
2. Eine statistische Grundlage
Jedes transparente und rechenschaftspflichtige Asylsystem muss genaue und aktuelle Statistiken über die verschiedenen Arten von Asylanträgen und deren Ergebnisse führen und veröffentlichen. Innerhalb Europas gibt es allerdings immer noch keine klaren und umfassenden Statistiken für SOGI-Anträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sollte die Anzahl der eingereichten SOGI-Anträge und die Gründe für ihre Annahme oder Ablehnung erfassen (z.B. durch Angabe des Konventionsgrundes oder dessen Fehlen, Verfolgung oder Fehlen hiervon und Glaubwürdigkeit oder deren Fehlen). Diese Informationen sollten veröffentlicht werden, um die Arbeit aller im Asylsystem und mit Antragstellern tätigen Personen, Organisationen und Behörden, einschließlich NRO-Dienstleistern, Anwälten und Forschern, zu unterstützen.
3. Eine sensible Handhabung der Dublin-Verordnung (III)
Bei der Prüfung, ob das BAMF für den Asylantrag zuständig ist, oder ob der / die Antragsteller*in in einen anderen EU-Mitgliedsstaat zurückgeschickt wird, sollte bei der individuellen Beurteilung des Falls auch SOGI eine Berücksichtigung finden. Der Bundesregierung wird empfohlen, bei SOGI-Anträgen genau zu prüfen, ob bei einer Rückführung in den jeweiligen Dublin-Staat den spezifischen Bedürfnissen von SOGI-Geflüchteten gerecht werden kann.
4. Umsetzung des Rechts auf Information
Antragsteller*innen wissen zum Zeitpunkt ihrer Ankunft häufig nicht, dass SOGI eine Grundlage für die Beantragung von Asyl sein kann. Dies trägt zu „verspäteten“ und schlecht vorbereiteten Anträgen bei. Wir empfehlen allen relevanten deutschen Behörden sowie nichtstaatlichen Akteuren, die am Asylprozess beteiligt sind, Informationen über Asyl und das Recht, einen SOGI-basierten Antrag zu stellen, zur Verfügung zu stellen. Diese Informationen sollten in leicht lesbaren Formaten und verschiedenen Sprachen mindestens bei Ankunft und Registrierung, in den Aufnahmeeinrichtungen, bei persönlicher Antragstellung und Anhörung sowie bei der Asylverfahrensberatung in AnkER- und funktionsgleichen Einrichtungen, zur Verfügung stehen. Zu Beginn der persönlichen Antragstellung sollte der/die Interviewer*in sich vergewissern, dass dem/der Antragsteller*in die verschiedenen Gründe für die Beantragung von Asyl, einschließlich der Verfolgung aufgrund von SOGI, bekannt sind. Außerdem sollte er/sie dem Antragsteller versichern, dass Vertraulichkeit in allen Phasen des Prozesses gewährleistet ist. Keine dieser Maßnahmen sollte jedoch dazu führen, dass das Versäumnis, SOGI als Grundlage für den Asylantrag zu deklarieren, später gegen den/die Antragsteller*in gerichtet wird.
5.„Verspäteten“ Anträgen gerecht werden
Wenn SOGI-Asylantragsteller ihren Asylantrag mit Bezug zu SOGI erst einige Zeit nach Ankunft im Aufnahmeland stellen, geschieht dies meist aus einer Reihe von Gründen. Zum einen fehlt ihnen häufig die Kenntnis, dass SOGI eine legitime Grundlage für einen Asylantrag darstellt, zum anderen haben sie oft Angst sich gegenüber Beamten oder anderen Personen, mit denen sie in Kontakt kommen, zu „outen“. Die „verspätete Auskunft“ ist jedoch weiterhin ein Faktor, der sich nachteilig auf Antragsteller auswirkt und zur Diskreditierung ihrer Anträge verwendet wird. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte sollten „verspätete“ Anträge nicht diskriminieren, wie es auch die europäische Rechtsprechung vorsieht [EuGH (Große Kammer), Urt. v. 02.12.2014 – C-148-150/13].
6. Begrenzung der Dauer von Asylverfahren
Die Zeitspanne, die viele Antragsteller auf eine erste Entscheidung und dann auf ihre Berufung warten müssen – manchmal über mehrere Jahre hinweg – ist Ursache von viel Leid, da die Menschen in dieser Zeit häufig nicht in der Lage sind, zu studieren, zu arbeiten, die Familienzusammenführung sicherzustellen oder in ihrem Leben in irgendeiner Weise weiterzukommen. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte müssen in den Aufbau ihrer Kapazitäten investieren, um die Zeit zu verkürzen und Zielvorgaben für Entscheidungen des BAMF sowie der Klage bei Gericht zu veröffentlichen, allerdings nicht auf Kosten einer gründlichen Prüfung der Anträge der Antragsteller.
7. Behördliche Leitlinien zu SOGI-Asyl
Das BAMF sollte strikte Leitlinien zu SOGI-Anträgen für Anhörer*innen und Entscheider*innen erstellen und veröffentlichen und sicherstellen, dass diese konsequent angewandt und regelmäßig überprüft werden. SOGI-Geflüchtete sollten als Hauptquelle für Fachwissen in diesem Bereich der Politik und des Rechts anerkannt und in die Vorbereitung und Bereitstellung von Leit- und Schulungsmaterialien einbezogen werden.
8. Obligatorische Schulungen
Selbst wenn interne Dienstanweisungen beim BAMF existieren, gibt es ein besorgniserregendes Maß an Inkonsistenz bei der Entscheidungsfindung, wobei Antragsteller*innen aus demselben Land und manchmal mit sehr ähnlichen Erfahrungen unterschiedliche Entscheidungen erhalten. Die Bundesregierung sollte sicherstellen, dass alle Parteien, einschließlich aller Anhörer*innen und Entscheider*innen (nicht nur Sonderbeauftragte), Richter*innen, Dolmetscher*innen und andere Dienstleister, besser geschult werden, um sowohl das Vertrauen in die Qualität ihrer Arbeit zu stärken als auch Entscheidungen von SOGI-Anträgen zu verbessern. Die Schulung sollte bei der Einarbeitung obligatorisch sein und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sowie alle relevanten Aspekte für eine faire Beurteilung von SOGI-Anträgen beinhalten (z. B. Terminologie, Interviewtechniken, Verwendung von Länderberichten, Anti-Stereotypisierung-Ansatz).
9. Förderung einer Kultur der Empathie
Die Besonderheiten von Leitfäden und Schulungsmaterialien hängen vom institutionellen Kontext ab. Dennoch gibt es einige Elemente, die in allen Materialien enthalten sein sollten, darunter: die Bedeutung von Empathie, das Bewusstsein für Gleichstellungs- und Menschenrechte, angemessene Terminologie, Zusicherung von Vertraulichkeit, wie man einen sicheren Raum herstellt, Schulungen zu den Auswirkungen von Traumata auf Menschen und zu unbewussten Vorurteilen. Wir empfehlen außerdem, dass das BAMF und die Verwaltungsgerichte einen Verhaltenskodex entwickeln, der Gleichheit und Vielfalt als Schlüsselprinzipien enthält.
10. Verbesserung der Rechtsberatung und -vertretung
SOGI-Asylanträge sind häufig besonders komplex und erfordern Rechtsvertreter*innen, die über Erfahrung und Fachwissen auf diesem Gebiet verfügen. Viele Antragsteller*innen haben jedoch Schwierigkeiten, Zugang zu guter Rechtsberatung zu erhalten, insbesondere wenn sie in abgelegenen Unterkünften untergebracht sind. Teil des Problems ist ein allgemeiner Mangel an ausreichenden Finanzmitteln für Rechtshilfe, und die Bundesregierung muss in diesen Bereich investieren, um sicherzustellen, dass Antragsteller*innen auch für die Vorbereitung ihres Erstantrags Zugang zu Rechtsmitteln haben, und dass Prozesskostenhilfe nicht von der Erfolgschance abhängt, wie dies derzeit bei Gerichtsverfahren der Fall ist. Dies ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch im Interesse der rechtlichen und administrativen Effizienz.
11. Angemessene Dolmetscherdienste anbieten
Dolmetscher*innen spielen eine wichtige Rolle in Anhörungen und bei Gerichtsverhandlungen, und es ist wichtig, dass SOGI-Antragsteller*innen in beiden Situationen Vertrauen in die Dolmetscherdienste haben. Ein*e Dolmetscher*in, die/der homophob oder transphob ist oder vom/von der Antragsteller*in als solche*r wahrgenommen wird, kann die Kommunikation ernsthaft beeinträchtigen. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte sollten entsprechend ausgewählte und geschulte Dolmetscher*innen bereitstellen, um einen vertraulichen, neutralen und spezialisierten Ansatz beim Dolmetschen von SOGI-Fällen zu gewährleisten. Die Behörden sollten den Antragsteller*innen auch gestatten, einen Ersatz zu beantragen, wenn sie Bedenken hinsichtlich des / der zur Verfügung gestellten Dolmetschers / Dolmetscherin haben. Antragsteller*innen sollten darüber informiert werden, dass sie das Recht haben, einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin anzufordern und die Ausübung dieses Rechts sollte ermöglicht werden.
12. Spezifische Bedürfnissen in den Verfahren
Es gibt eine Reihe praktischer Verbesserungen, die das BAMF und die Verwaltungsgerichte sowohl in Bezug auf die Anhörung als auch in Bezug auf Gerichtsverhandlungen vornehmen sollten sowie sicherstellen sollten, dass diese in allen 16 Bundesländern konsequent umgesetzt werden. Beamte sollten sich immer persönlich vorstellen, den Namen des Antragstellers / der Antragstellerin überprüfen und erfragen, wie die Person angesprochen werden möchte. Antragsteller*innen sollten darüber informiert werden, dass sie das Recht haben, einen männlichen oder eine weibliche Interviewer*in anzufordern, und die Ausübung dieses Rechts sollte ermöglicht werden. Protokolle zur Vertraulichkeit sollten vorhanden sein und der/die Antragsteller*in sollte über diese informiert werden. Interviewer*innen und Richter*innen sollten Fragen vermeiden, die eine lineare Entwicklung oder einen Moment der Enthüllung anstreben, wie z. B. „Wann haben Sie festgestellt, dass Sie schwul (oder lesbisch / bisexuell / transgender / usw.) sind?“ Es sollten generell offene Fragen gestellt werden, die es dem/der Antragsteller*in ermöglichen, das Geschehene auf die eigene Art und Weise vorzutragen. Um die Rechenschaftspflicht und das Vertrauen der Antragsteller*innen in die Verfahren zu verbessern, sollten zugängliche Beschwerdeverfahren vorhanden sein.
13. Keine „sicheren Herkunftsstaaten“
Deutschland hat bestimmte Herkunftsstaaten seit langer Zeit als „sicher“ eingestuft, was bedeutet, dass Anträge aus diesen Ländern als „unbegründet“ oder als weniger erfolgsversprechend angesehen werden. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu der Notwendigkeit, eine individuelle Bewertung jedes Asylantrags durchzuführen, sondern ist insbesondere für SOGI-Anträge problematisch, da SOGI-Rechte und -Schutz in diesen Ländern häufig verweigert werden. Die Bundesregierung sollte Herkunftsstaaten nicht mehr als „sicher“ ausweisen.
14. Beschleunigte Verfahren
Listen mit „sicheren Herkunftsstaaten“ werden häufig von „Schnellverfahren“ begleitet, was sich negativ auf SOGI-Anträge auswirkt, da deren Vorbereitung als komplex und zeitaufwändig gilt. Anstatt beschleunigte Entscheidungsverfahren für Antragsteller bestimmter Nationalitäten anzuwenden, sollten die deutschen Asylbehörden alle Anträge der gleichen gründlichen Prüfung unterziehen. Dies gilt auch für alle Anträge, die in den AnkER-Zentren bearbeitet werden.
15. Verbesserung der Qualität der Informationen zu Herkunftsstaaten
Genaue und umfassende Daten und Analysen über Herkunftsstaaten sind für eine gute Asylentscheidung von entscheidender Bedeutung. Studien zu SOGI in den Herkunftsländern sind jedoch rar und häufig veraltet, was zu fehlerhaften Entscheidungen führt. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte sollten vorhandene Ressourcen wie das COI-Portal des Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) bei der Entscheidungsfindung besser nutzen und ihre eigenen Länder-Ressourcen weiterentwickeln. Allgemeine und SOGI-Asyl-NROs sollten dazu aufgerufen werden, ihr Fachwissen und ihre Kenntnisse einzubringen (und für ihre Beiträge angemessen bezahlt werden).
16. Nutzung aller Gründe der Flüchtlingskonvention
Um die vielen Faktoren und Identitäten zu erkennen, die die Grundlage für die Verfolgung aufgrund von SOGI bilden, sollten deutsche Asyl- und Gerichtsentscheider*innen bei der Beurteilung von SOGI-Asylanträgen alle Gründe der Flüchtlingskonvention nutzen, anstatt sich allein auf das Kriterium der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ zu beziehen. Wenn das Kriterium „bestimmte soziale Gruppe“ angewandt wird, dann sollten BAMF und Verwaltungsgerichte den UNHCR-Richtlinien folgen und nur verlangen, dass die Antragsteller*innen ein angeborenes oder grundlegendes Merkmal haben oder einen gemeinsamen Hintergrund haben oder als eine Gruppe mit einer eigenen Identität wahrgenommen werden – nicht beides (alternativer statt kumulativer Ansatz).
17. Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
Um das internationale Flüchtlingsrecht und die europäische Rechtsprechung genau widerzuspiegeln, sollte das BAMF betonen, dass die Frage für Entscheider*innen nicht allein sein sollte, ob die Antragsteller*innen „wirklich“ LGBTIQ+ sind (lesbisch, schwul, bisexuell, trans, intersexuell, queer), sondern ob es wahrscheinlich ist, dass sie aus SOGI-Gründen verfolgt werden, wenn sie in das Herkunftsland zurückgeführt werden.
18. Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen als Verfolgung
Entgegen der UNHCR-Richtlinien erkennen Entscheider*innen eine drohende Verfolgungshandlung oft nur dann an, wenn eine Freiheitsstrafe für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen existiert und tatsächlich verhängt wird. Dies ignoriert Diskriminierung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene, die mit der Gesetzgebung einhergeht, und die Tatsache, dass nicht angewandte Gesetze jederzeit durchgesetzt werden können. Des Weiteren müssen diese Gesetze meist nicht angewandt werden, weil Menschen in diesen Ländern ihre SOGI verstecken und/oder weil die Gesellschaft die Verfolgung ‚übernimmt‘. Wenn LGBTQI+ Personen inhaftiert werden, dann werden auch oft andere Gründe als SOGI auf den Papieren angegeben. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte sollten die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen unabhängig von ihrer Durchsetzung als ausreichend anerkennen, um eine Verfolgung festzustellen. Infolgedessen sollten BAMF und Verwaltungsgerichte auch anerkennen, dass es für SOGI-Antragsteller*innen aus diesen Ländern selten interne Flucht- oder Umsiedlungsalternativen geben kann, da die Kriminalisierung normalerweise für das gesamte Hoheitsgebiet eines Landes gilt.
19. Abschaffung der „Diskretionsbegründung“
Das BAMF erkennt nun an, dass es nicht hinnehmbar ist, von SOGI-Antragsteller*innen zu verlangen, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und „diskret“ zu leben, indem sie ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität verbergen. Die „Diskretionsbegründung“ besteht jedoch weiterhin in der Annahme, dass Antragsteller*innen in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können, wenn sie sich freiwillig und aus eigenem Entschluss „entscheiden“, diskret zu leben. Diese Richtlinie ist gefährlich, da sie davon ausgeht, dass Entscheider*innen das zukünftige Verhalten einer Person vorhersagen können, und die Tatsache ignoriert wird, dass die Entscheidung, SOGI offenzulegen oder nicht, selten vollständig unter der Kontrolle der Person liegt. BAMF und Verwaltungsgerichte sollten daher alle Spuren von „Diskretion“-Denken aus der Entscheidungsfindung entfernen.
20. Standard und Beweislast
Asylbewerber*innen müssen häufig ungerechtfertigt hohe Beweisstandards erfüllen. In der Praxis wenden BAMF und Verwaltungsgerichte einen Beweisstandard an, der über den Schwellenwert hinausgeht, den Antragsteller*innen nach internationalem Flüchtlingsrecht einhalten müssen, und verstoßen häufig gleichzeitig gegen den Grundsatz im Zweifelsfalle zu den Gunsten des Antragstellers zu entscheiden. Auch übernehmen die Asylbehörden häufig keine ausreichend aktive Rolle bei der Beweiserhebung. Stattdessen sollten das BAMF und die Verwaltungsgerichte den korrekten Beweisstandard, einschließlich des Grundsatzes der günstigen Auslegung, respektieren und die Beweislast mit den Asylbewerbern teilen.
21. Verwendung humaner Beweismittel
Obwohl es nun anerkannt ist, dass Beweise explizit sexueller Natur nicht eruiert oder akzeptiert werden sollten, geht die Befragung von Antragsteller*innen über ihre Beziehungen und ihr Verhalten regelmäßig über das hinaus, was zulässig sein sollte. In der persönlichen Anhörung sowie in Gerichtsverfahren findet immer noch eine übermäßige Prüfung der Sexualgeschichte und der Verfolgungserfahrungen der Antragsteller*innen statt. Ihre Persönlichkeit wird hiermit nicht respektiert und solch ein Vorgehen wäre in anderen Bereichen nicht akzeptabel. Das BAMF und die Verwaltungsgerichte sollten bei SOGI (und allen anderen) Asylbewerbern die gleichen Standards in Bezug auf Anstand und Würde anwenden, wie dies bei jedem anderen Mitglied der Gesellschaft geschieht, wenn Beweise gesammelt werden.
22. Stereotypisierung
Entscheider*innen verstehen den jeweiligen Antragsteller / die jeweilige Antragstellerin häufig aufgrund von Annahmen und Vorurteilen nicht. Dazu gehören unter anderem die Erwartungen, dass Antragsteller eine*n Partner*in haben oder sexuell aktiv sind, an LGBTIQ+ -Aktivismus teilnehmen, eine „Coming-out“-Geschichte liefern und Schwierigkeiten haben, ihre SOGI mit ihren religiösen Überzeugungen in Einklang zu bringen. Entsprechende Stereotype untergraben die grundlegende Prämisse der individuellen Asylentscheidungsprozesse. BAMF und Verwaltungsgerichte sollten weder während der Befragungen noch bei ihren Entscheidungen von „stereotypen Vorstellungen“ Gebrauch machen.
23. Glaubwürdigkeit
Glaubwürdigkeit ist ein Schlüsselelement in vielen, wenn nicht den meisten SOGI-Asylentscheidungen; hierunter verstehen wir den allgemeinen Glauben an die Aussage. Die Entscheidungsfindung basiert zu oft auf dem Versuch, die SOGI eines Antragstellers / einer Antragstellerin objektiv zu „beweisen“ und geht von einer skeptischen Position in Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Antrags aus. Während unserer Feldforschung fragten uns die Antragsteller*innen immer wieder verzweifelt oder ermüdet: „Wie kann ich meine SOGI nachweisen?“ Wir empfehlen dem BAMF und den Verwaltungsgerichten, die von den Antragsteller*innen vorgelegten Beweise, insbesondere die persönlichen Aussagen, als Ausgangspunkt für die Glaubwürdigkeitsprüfung zu nehmen. Es sollte die Grundeinstellung gelten, Vertrauen in die Darstellung der Antragsteller*innen über ihre Person und das, was ihnen widerfahren ist, zu haben.
24. Erleichterung der Familienzusammenführung
Wenn internationaler Schutz gewährt wird, dann hat für einige Personen die Wiedervereinigung mit Kindern und Partnern oberste Priorität. Die Bundesregierung und die Verwaltungsgerichte sollten sicherstellen, dass die Definition von Familie gleichgeschlechtliche Partnerschaften zum Zweck der Familienzusammenführung umfasst. Des Weiteren sollte bei der Bewertung der Anträge von SOGI-Geflüchteten berücksichtigt werden, dass solche Partnerschaften in den Herkunftsländern meist nicht anerkannt sind und dass es deshalb auch schwierig ist, einen Nachweis über diese zu bringen.
Empfehlungen: über das Asylverfahren hinaus
25. Förderung der sozialen Integration
Wir empfehlen der Bundesregierung, eine ganzheitliche Politik zur Integration von Geflüchteten zu entwickeln, die die spezifischen Bedürfnisse von SOGI-Antragsteller*innen berücksichtigt. Priorität solcher Richtlinien sollte es sein, sicherzustellen, dass jede*r Asylbeantragende sich ab dem Zeitpunkt ihrer/seiner Ankunft sicher und willkommen fühlt und schnell als angesehenes Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird, beginnend mit Aufnahme- und Unterbringungszentren. Dies ist in Anbetracht der zunehmenden Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten (und Migranten im Allgemeinen) in Europa von wesentlicher Bedeutung, die mit anhaltender und häufig zunehmender Homophobie und Transphobie einhergeht.
26. Sichere und angemessene Unterkunft
Viele SOGI-Asylbewerber*innen sind in Gemeinschaftsunterkünften oder Ankunftszentren untergebracht, in denen ihre Bedürfnisse nicht erkannt oder – schlimmer noch – sie diskriminiert werden. Alle relevanten zentralen und lokalen Behörden müssen insbesondere auf die Sicherheit von SOGI-Antragsteller*innen in Asylunterkünften achten, in denen die Bewohner*innen eventuell homophober, transphober, rassistischer und gegen Migranten gerichteter Gewalt und Hassverbrechen ausgesetzt sind. Die deutschen Behörden sollten SOGI-Antragsteller*innen die Möglichkeit geben, auf Wunsch mit anderen SOGI-Antragsteller*innen in getrennten Einrichtungen untergebracht zu werden und auf jeden Fall sollten Unterkünfte im Camp-Stil vermieden werden. Da es spezifische Belange für Trans-Geflüchtete gibt, sollte die Einrichtung von trans-spezifischen Unterkünften, die von NROs verwalten werden, Priorität haben. Individuen sollten den größtmöglichen Einfluss darauf haben, in welchem Gebiet und in welcher Art Unterkunft sie leben, und sollten Zugang zu geeigneten Informationen, Selbsthilfegruppen und sozialen Aktivitäten haben.
27. Förderung der körperlichen und geistigen Gesundheit
SOGI-Asylbewerber*innen haben besondere Gesundheitsbedürfnisse, die oftmals übersehen werden: Wie viele andere Asylbewerber*innen leiden sie oft an psychischen Problemen und Depressionen. Ein weiterer Bedarfsbereich ist hormonelle oder geschlechtsbejahende Therapie für Trans-Geflüchtete, einschließlich der Kontinuität der medizinischen Versorgung. Die deutschen Gesundheitsbehörden sollten das Dienstleistungsangebot in beiden Bereichen erhöhen und sicherstellen, dass SOGI-Geflüchtete über ihre Gesundheitsleistungen informiert sind. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung sollte des Weiteren universell sein und sich nicht auf die Notfallversorgung beschränken. Er sollte Personal und Dolmetscherdienste umfassen, die in Asyl- und SOGI-Themen geschult sind.
28. Erleichterung eines gleichberechtigten Zugangs zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem
SOGI-Asylbewerber*innen werden an der Arbeitsstelle häufig aufgrund ihrer SOGI, ihres ethnischen Hintergrunds oder ihres Flüchtlingsstatus diskriminiert. Oftmals sind sie auch auf die Unterstützung von Anderen angewiesen, um Arbeit zu finden – alles Faktoren, die ihnen die Offenheit im Umgang mit ihrer SOGI-Identität erschweren. Aus diesem Grund sollten Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften Maßnahmen ergreifen, um diese besonderen Erfahrungen von Diskriminierung am Arbeitsplatz anzugehen. Die Schwierigkeit, in Kombination mit einem langen Asylverfahren, das Recht auf Arbeit zu genießen, hat eventuell keine bestimmte SOGI-Dimension, wurde jedoch von fast allen unseren Teilnehmern als Ursache für Stress und Not angesprochen. Dies bedeutet, dass die Bundesregierung den Zugang zu Arbeitsmarkt, Weiter- und Hochschulbildung sowie Ausbildung weiterhin verbessern sollte.
29. Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen und NROs
Asylbewerber*innen vertrauen häufig NROs und sind auf ihre Unterstützung angewiesen, weit mehr als auf andere Dienstleister. Es gibt ausgezeichnete Flüchtlings- und SOGI-Organisationen, die unschätzbare Hilfe anbieten. NROs unterstützen jedoch häufig entweder Geflüchtete oder SOGI-Minderheiten, aber nicht beide. Dies bedeutet, dass SOGI-Geflüchtete nicht immer ganzheitliche Unterstützung erhalten können, die auf all ihre Bedürfnisse eingeht. Es muss eine angemessene Finanzierung für SOGI-spezifische Flüchtlings-NROs geben, damit sie ihre Reichweite vergrößern und mehr SOGI-Geflüchtete erreichen können. Es gibt auch ein Potenzial für NROs, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, Optionen für Partnerschaften zu erkunden und gemeinsame Dienste zu entwickeln, wobei sie jedoch stets auf das Fachwissen der SOGI-spezifischen Flüchtlingsorganisationen und SOGI-Geflüchteten selbst zurückgreifen sollten. Gruppen und Organisationen, die von SOGI-Geflüchteten selbst gegründet wurden, sind eine große Quelle der Unterstützung und des Fachwissens, stehen jedoch häufig vor besonderen Schwierigkeiten, Finanzmittel zu erhalten. Förderer sollten ihre Finanzierung für neue Gemeindeeinrichtungen mit Fachkenntnissen in Bezug auf SOGI-Asyl zugänglicher machen.
30. Internationale Zusammenarbeit zur Förderung von LGBTIQ+ -Gleichstellung
Es sollte immer bedacht werden, dass die Gewährung des Flüchtlingsstatus an SOGI-Asylbewerber*innen, die Europa erreicht haben, wenn auch unverzichtbar, eine unzureichende Alternative ist, um zu verhindern, dass Personen aus ihren Herkunftsländern fliehen und gefährliche und kostspielige Reisen nach Europa unternehmen müssen. Die Bundesregierung sollte allein und in Zusammenarbeit mit der EU, dem Europarat und anderen regionalen und internationalen Organisationen eine stärkere Achtung der Rechte und Bedürfnisse von SOGI-Minderheiten auf der ganzen Welt fördern, unter anderem durch den Aufbau von Kapazitäten für LGBTIQ+ -Aktivisten und NROs. Die Bundesregierung sollte auch die Verbesserung des GEAS unterstützen, wo bei den Verhandlungen über die bevorstehende einschlägige Reform höhere Standards für den Schutz der Menschenrechte erreicht werden können.
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Beim Verfassen dieser Empfehlungen ist uns bewusst, dass es größere Zusammenhänge gibt; dass viele der Probleme, die SOGI-Geflüchtete betreffen, auch andere Geflüchtete und Migranten / Migrantinnen im Allgemeinen betreffen – Themen wie Rassismus, eine Kultur des Zweifels, eingeschränkte Rechtsberatung und -vertretung sowie willkürliche und inkonsistente Entscheidungsfindung. Während diese Themen den Rahmen dieses Projektes sprengen, glauben wir, dass unsere Empfehlungen eine Grundlage für einige gezielte und oft kleine Veränderungen sind, die dennoch einen relevanten Unterschied für das Leben von SOGI und anderen Geflüchteten bedeuten können, innerhalb des größeren Rahmens der Kämpfe für die Rechte aller Geflüchteten und SOGI-Minderheiten.
Das SOGICA-Projekt
SOGICA ist ein vierjähriges (2016-2020) vom Europäischen Forschungsrat finanziertes Projekt an der Universität von Sussex, das die rechtlichen und sozialen Erfahrungen von SOGI-Geflüchteten in Europa untersucht, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Deutschland, Italien und Großbritannien liegt. Die Methodik des Projekts bestand aus 143 Interviews mit SOGI-Geflüchteten, NROs, politischen Entscheidungsträger*innen, Entscheider*innen, Richter*innen, Anwält*innen und anderen Fachleuten; 16 Fokusgruppen mit SOGI-Geflüchteten; 24 nicht-teilnehmende kontextuelle Beobachtungen von Gerichtsverhandlungen, Dokumentaranalyse und Anfragen zur Informationsfreiheit. Ausführliche Informationen zum Projekt sowie zu allen Aktivitäten und Ressourcen finden Sie auf der Projektwebsite www.sogica.org. Die vollständige sozialrechtliche Analyse unserer Ergebnisse ist im Buch Queering Asylum in Europe (Springer 2020) dargelegt.
Sie können diese Empfehlungen hier herunterladen. Vielleicht möchten Sie auch unsere endgültigen Empfehlungen an die Europäische Union (hier und hier), Italien und das Vereinigte Königreich heranziehen.
*For the English version of these recommendations, please click Policy recommendations to Germany (also available on the SOGICA database).